Investing.com - Fast auf den Tag genau vor einem Jahr holte die Fed die Zins-Bazooka heraus und erhöhte den Leitzins viermal hintereinander um 75 Basispunkte. Der gestrige Tag markierte sehr wahrscheinlich das Ende des aggressivsten Zinszyklus seit den 1980er Jahren. Und dennoch tritt der S&P 500 seither im Wesentlichen auf der Stelle. Entweder wiegen sich die Märkte in falscher Sicherheit und glauben, dass wir der größten geldpolitischen Katastrophe des letzten Jahrhunderts entgangen sind, oder sie liegen mit ihrer Einschätzung völlig daneben. Fed-Chef Powell neigt zu Ersterem und sagte erst gestern auf seiner Pressekonferenz nach der Zinsentscheidung der Fed, dass eine Rezession nicht sein Basisszenario ist. Die Rentenmärkte sind sich da allerdings nicht so sicher.
Die Futures gehen weiterhin davon aus, dass die Fed in den nächsten fünf Monaten mit Zinssenkungen beginnen wird, selbst nachdem das FOMC gestern den Leitzins um 25 Basispunkte angehoben hat und Powell seine Haltung "höhere Zinsen für länger" bekräftigte.
Für die Sitzung am 14. Juni taxieren die Märkte die Wahrscheinlichkeit auf 88,7 Prozent, dass die US-Notenbank den Zielkorridor der Fed Funds bei 5,00 bis 5,25 Prozent belässt, und auf 0 Prozent, dass die Fed eine Zinserhöhung um 25 Basispunkte beschließt.
Ein etwas anderes Bild ergibt sich für die Sitzung des FOMC am 26. Juli: Hier liegt die Wahrscheinlichkeit bei 46,4 Prozent, dass der Leitzins konstant bei 5,00 bis 5,25 Prozent bleibt, und bereits bei 49,7 Prozent, dass die Fed den Leitzins auf dieser Sitzung um 25 Basispunkte senkt. Wie im Juni, gilt auch im Juli eine Leitzinserhöhung als völlig ausgeschlossen.
Ab September wird es dann richtig spannend, zumindest Stand aktueller Erwartungen, denn hier liegt die Wahrscheinlichkeit bei knapp 50 Prozent, dass die Leitzinsen um 25 Basispunkte niedriger sind als jetzt, und sogar bei 35,6 Prozent, dass sie um 50 Basispunkte niedriger sind als heute. Dass sie gleich hoch oder höher sind als jetzt, liegt bei nur 14,3 Prozent.
Per Saldo implizieren die Futures nach wie vor, dass erste Zinssenkungen der Fed in den nächsten fünf Monaten anstehen. Ein ähnliches Bild zeichnet auch der Rentenmarkt: die Bills mit 6-monatiger Laufzeit rentieren 5,12 Prozent, während für einjährige Titel 4,71 Prozent gezahlt werden. Staatsanleihen mit zweijähriger Laufzeit, die besonderes zinsempfindlich sind, rentieren sogar nur noch bei 3,83 Prozent. Powells Botschaft, wonach die Leitzinsen noch für einen längeren Zeitraum auf dem aktuell hohen Niveau eingefroren werden sollen, kommt an diesen Märkten eindeutig nicht an. Stattdessen deuten sie darauf hin, dass sich die Wirtschaft in den USA doch recht schnell abkühlt und die Fed gezwungen sein wird, die Zinssätze zu senken, noch bevor die ersten Laubblätter von den Bäumen im Herbst fallen.
Dass das Risiko einer Rezession hoch ist, hat Powell gestern indirekt mit den berühmt gefährlichen Worten bestätigt: "Diesmal könnte es anders sein". In seinem Gedankenmodell bleiben die US-Wirtschaft und insbesondere der Arbeitsmarkt in den USA stark. Damit hat er bis zu einem gewissen Grad wohl auch recht. Denn: Die Fed hat die Leitzinsen binnen etwas mehr als einem Jahr um 5,0 Prozentpunkte angehoben, und dennoch ist die Arbeitslosenquote weiterhin niedrig und die Nachfrage nach Arbeitskräften nach wie vor hoch. Doch allmählich zeigen sich erste Risse am sonst so robusten Jobmarkt, wie die steigenden Arbeitslosenansprüche und die sinkende Zahl der offenen Stellenangebote zeigen.
Der S&P 500 mag mit seiner üppigen Bewertung von einem erwarteten KGV von 19 bis 20 ein solches Szenario nicht widerspiegeln, aber sowohl der viel größere Markt für Staatsanleihen als auch die Fed Funds Futures sagen: Zinssenkungen noch in diesem Jahr, voraussichtlich in weiser Voraussicht für den Eintritt in eine Rezession. Und es sind ja nicht nur die Rentenmärkte, die sagen: Obacht, niedrigere Zinsen in Sicht. Erst gestern markierte der Euro ein neues 1-Jahres-Hoch gegenüber dem US-Dollar.
Wer jetzt aber mit dem Finger auf den S&P 500 zeigt und sagt, er notiere noch immer über der 4.000-Punkte-Marke und gebe noch keine Hinweise auf eine beginnende Rezession, dem sei gesagt, dass Powell auf seiner gestrigen Pressekonferenz vor einem weiteren Rückgang der Gewinnspannen vor dem Hintergrund einer Rückkehr zum Gleichgewicht zwischen Angebot und Nachfrage gewarnt hat. Das steht in krassem Gegensatz zu den Gewinnschätzungen der Analysten, die für den S&P 500 weiterhin Rekordgewinne zum Jahresende prognostizieren und das, obwohl die US-Wirtschaft unter Trend wächst.