INSIGHT-Vom Klimawandel bis zur Ungleichheit - EZB wird unter Lagarde politischer

Reuters

Veröffentlicht am 26.10.2020 10:35

* EZB greift verstärkt soziale und gesellschaftliche Themen auf

* Lagarde will Spielraum in den EU-Verträgen nutzen

* Skepsis aus Deutschland gegenüber weiter Mandatsauslegung

- von Balazs Koranyi und Francesco Canepa und Frank Siebelt

Frankfurt, 26. Okt (Reuters) - Vom Klimawandel bis zu Fragen der ökonomischen Ungleichheit: Seit die ehemalige Chefin des Internationalen Währungsfonds (IWF), Christine Lagarde, vor rund einem Jahr das Ruder bei der Europäischen Zentralbank (EZB) übernommen hat, nimmt die Notenbank verstärkt soziale und gesellschaftliche Themen in den Blick. Für die mächtigste Institution im Euro-Raum könnte das zu einem grundlegenden Wandel führen, mit dem in Zeiten anhaltender Niedriginflation die Rolle von Zentralbanken neu definiert würde. Doch der Vorstoß ist umstritten: Denn manchen Experten zufolge setzt sich die EZB damit auch Angriffen aus, die letztlich ihre Unabhängigkeit in Frage stellen könnten.

Lagarde hat die Tragweite ihres Vorstoßes klar im Blick. In den vergangenen Jahrzehnten sei die Perspektive eng gewesen, von dem aus die Geldpolitik betrachtet worden sei, sagte sie jüngst. "Wir müssen den Horizont erweitern und mutig sein, einige dieser Themen aufzugreifen, obgleich sie nicht die traditionellen Felder sind, auf die die Geldpolitik schaut."

Die EZB ist eine Institution, deren Führungspersönlichkeit enorme Einflussmöglichkeiten hat - und zwar nicht nur auf die Finanzmärkte sondern auch auf die allgemeinen politisch-ökonomischen Debatten. Lagardes Vorgänger Mario Draghi hatte das im Sommer 2012 auf dem Höhepunkt der Euro-Schuldenkrise in einer inzwischen als historisch geltenden Rede gezeigt. Damals hatte er erklärt, die EZB werde im Rahmen ihres Mandats alles tun, was nötig ist ("whatever it takes"), um den Euro zu retten. Auch heute noch sehen viele Experten dies als den entscheidenden Wendepunkt in der damaligen Krise.

Die Rolle der EZB ist allerdings offen für Interpretationen. Nicht zuletzt tragen dazu auch unscharfe Formulierungen im EU-Vertrag bei. Anders als die US-Notenbank Fed, die ein duales Mandat hat - Sicherung der Preisstabilität und auch Vollbeschäftigung - ist das vorrangige Ziel der EZB laut EU-Vertrag die Gewährleistung von Preisstabilität. Darüber hinaus soll sie aber auch, soweit es dieses Ziel nicht beeinträchtigt, die allgemeine Wirtschaftspolitik in der Union unterstützen.

Anders als ihre Vorgänger an der EZB-Spitze will Lagarde diesen Spielraum auch nutzen, um soziale und gesellschaftliche Themen innerhalb der Geldpolitik stärker zu berücksichtigen. Was diese neue Ausrichtung allerdings genau beinhalten wird, dürfte erst zum Abschluss der laufenden Strategieüberprüfung der EZB - der ersten seit 17 Jahren - klar werden. Lagarde hat aber bereits Hinweise gegeben, dass möglicherweise die Marktneutralität bei den billionenschweren Anleihekäufen aufgegeben werden und Klimarisiken stärker berücksichtigt werden könnten. Ein EZB-Sprecher lehnte eine Stellungnahme zu diesem Artikel ab.

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Unterstützer der Neurorientierung argumentieren, dass auch eine enge Auslegung des Mandats die EZB in der Vergangenheit nicht vor politischen Angriffen geschützt hat. Solche sozialen und gesellschaftlichen Themen zu ignorieren, zeige zudem nur, dass die EZB sich von der Realität entferne. Abgeordnete des Europaparlaments, denen die EZB mehrmals im Jahr Rede und Antwort stehen muss, fragten in den vergangenen Jahren wiederholt nach, warum die Notenbank angesichts ihrer immensen wirtschaftlichen Schlagkraft nicht mehr für die Schaffung von Arbeitsplätzen oder für den Klimaschutz unternehme.

Einige EZB-Ratsmitglieder haben Lagardes Anstöße bereits aufgenommen. So argumentierte Fankreichs Notenbankchef Francois Villeroy de Galhau unlängst, dass Fragen der Beschäftigung und Einkommensverteilung bei der Festlegung der Geldpolitik stärker berücksichtigt werden sollten. Sein finnischer EZB-Ratskollege Olli Rehn sagte kürzlich, er könne mit einer höheren Inflation für eine gewisse Zeit leben, wenn der Gesichtspunkt der sozialen Wohlfahrt dies rechtfertige. Lettlands Notenbank-Chef Martins Kazaks sagte der Nachrichtenagentur Reuters: "Wenn sich eine Notenbank wie ein Vogel Strauß verhält und ihren Kopf in den Sand steckt, wird sie ihre Unabhängigkeit durch Versäumnis verlieren." Falls sie diese behalten und relevant für die Gesellschaft bleiben wolle, müsse sie dagegen zuhören und zeigen, dass sie vorhabe zu helfen.

h2 DEUTSCHE SKEPSIS/h2

Aber nicht alle EZB-Ratsmitglieder sind überzeugt. Bundesbank-Präsident Jens Weidmann beispielsweise warnt schon seit längerem vor einer weiten Auslegung des EZB-Mandats. Geldpolitik sei der Preisstabilität verpflichtet, sagte er unlängst der "Börsen-Zeitung". "Nur für dieses Ziel wurde uns Unabhängigkeit gewährt. Wir haben nicht den Auftrag, eigenständig andere Ziele zu verfolgen oder eine aktive Rolle in anderen Politikbereichen zu spielen." Zwar müsse der Kampf gegen den Klimawandel jetzt forciert werden. "Die Geldpolitik hat hier aber keinen Gestaltungsauftrag, ebenso wenig wie in der Industriepolitik oder der Verteilungspolitik. Ein enges Mandat und Unabhängigkeit sind zwei Seiten derselben Medaille."

In Deutschland wird eine weite Auslegung des EZB-Mandats schon seit Jahren besonders kritisch gesehen. So urteilte das Bundesverfassungsgericht erst im Mai, dass der Aufkauf von Staatsanleihen durch die EZB teilweise gegen das Grundgesetz verstoße. Der Konflikt mit den Karlsruher Richtern ist zwar inzwischen entschärft worden - aber nur teilweise. Denn beispielsweise die Klägergruppe um den AfD-Gründer und Wirtschaftsprofessor Bernd Lucke will nicht locker lassen.

Auch manche EZB-Experten sehen Lagardes Vorstoß skeptisch. Friedrich Heinemann, Leiter des Forschungsbereichs Unternehmensbesteuerung und Öffentliche Finanzwirtschaft des ZEW-Instituts, warnt vor einer Überpolitisierung der Notenbank. Die EZB beginne, politische Trends aufzugreifen. "Das ist erstmal problematisch, weil das nicht mehr durch das Mandat gedeckt ist. Das ist außerhalb der Ermächtigung für Geldpolitik", erläuterte Heinemann. Dies müsse man den Parlamenten überlassen - dem europäischen Parlament und der Rechtssetzung.

Für den Experten stellt sich damit auch die Frage, ob die EZB dann überhaupt noch unabhängig bleiben darf. Wenn sie anfange, allgemeine Politik zu machen, dann würden auch die Argumente dafür schwinden, dass sie das einfach ohne Rückbindung an Parlamente könne. "Wenn der EZB-Rat jetzt plötzlich anfängt zu entscheiden, was eine gerechte Verteilung ist, und beginnt Entscheidungen zu treffen mit den Instrumenten der Notenbank, dann muss eine Gesellschaft sagen, diese EZB müssen wir jetzt auch demokratisch kontrollieren", so Heinemann.

Im Europaparlament, gegenüber dem die EZB rechenschaftspflichtig ist, sehen manche Abgeordnete Lagardes Vorstoß dagegen mit viel Sympathie. "Die EZB überpolitisiert sich nicht, sie überwindet eine falsche Doktrin, nur die Inflation zu bekämpfen", sagt etwa Sven Giegold, Obmann der Grünen-Fraktion im Ausschuss für Wirtschafts- und Finanzpolitik. (Redigiert von Alexander Ratz

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