HINTERGRUND-Machtkampf um EU-Haushaltsregeln

Reuters

Veröffentlicht am 29.07.2016 10:16

HINTERGRUND-Machtkampf um EU-Haushaltsregeln

- von Tom Körkemeier

Brüssel (Reuters) - "Der Stabilitäts- und Wachstumspakt ist tot."

Für Lüder Gerken, den Chef des Centrums für Europäische Politik, ist das die traurige Konsequenz aus der Entscheidung der EU-Kommission, keine Strafen gegen die Defizitsünder Spanien und Portugal zu verhängen. Wer wäre dann der Totengräber Wolfgang Schäuble zählt nicht zu den üblichen Verdächtigen bei der Beerdigung europäischer Regeln. Er gilt nicht nur als überzeugter Europäer, sondern auch als Verfechter einer strikten Einhaltung von Vorgaben.

Doch nach der Entscheidung in Brüssel berichteten die Nachrichtenagentur Reuters und das "Handelsblatt" unter Berufung auf EU-Vertreter, dass der CDU-Politiker mehrere EU-Kommissare der eigenen europäischen Parteienfamilie (EVP) kontaktiert hat, um einen Verzicht auf Sanktionen gegen Spanien und Portugal zu erreichen. Das Bundesfinanzministerium will die Berichte nicht kommentieren. In einer Stellungnahme zum Kommissionsvorschlag heißt es nur, die Begründung für den Straferlass sei nachvollziehbar.

Für Daniel Gros vom Brüsseler Forschungsinstitut Ceps ist es bereits der zweite Tod des Stabilitätspaktes, der die Mitgliedsstaaten der Euro-Zone eigentlich zu Haushaltsdisziplin verpflichtet und damit eine neue Schuldenkrise im Währungsraum verhindern soll. Denn schon 2003 haben Deutschland und Frankreich den Pakt missachtet, als sie selbst ein zu hohes Defizit aufgewiesen haben. Der Verzicht auf eine Strafe habe nun eindeutig politische Motive, schreibt Gros. "Die Botschaft ist klar: Regeln können verbogen werden, wenn es politisch zweckmäßig ist."

DIJSSELBLOEM ÜBERNIMMT SCHÄUBLES MAHNENDEN PART

Die EU-Kommission machte daraus selbst keinen Hehl und sprach aus, was auch Schäuble zu seiner Intervention bewogen haben dürfte: So wurde der Straferlass mit der EU-Skepsis in vielen Ländern der Gemeinschaft, der hohen Jugendarbeitslosigkeit auf der iberischen Halbinsel sowie der Tatsache begründet, dass Spanien seit mehr als einem halben Jahr um eine neue Regierung ringt. Spätestens seit dem Austritts-Votum der Briten ist deutlich, welche Kräfte die Anti-EU-Stimmung entfalten kann und wie sehr sie die Fundamente der Staatengemeinschaft bedrohen kann. Für Sylvie Goulard, EU-Abgeordnete der Liberalen, zieht das Argument trotzdem nicht: "Denn es berücksichtigt nicht, dass die Entscheidung (der EU-Kommission) die Euroskepsis in jenen Ländern stärkt, die den Regeln folgen." Sie hätte eine geringe, symbolische Strafe bevorzugt.

Auch die Ratingagentur Fitch sieht die Entscheidung in Brüssel kritisch. Sie fördere zwar kurzfristig das Wirtschaftswachstum, schreibt Fitch-Analyst James McCormack. Aber die Konsolidierung der öffentlichen Haushalte in der Euro-Zone dürfte damit in der Liste der Prioritäten noch weiter nach unten rutschen. Auch Eurogruppen-Chef Jeroen Dijsselbloem äußerte sich enttäuscht[nL8N1AE0DX], wohl wissend, dass eine Mehrheit der Euro-Länder gegen den Vorschlag der EU-Kommission kaum zu organisieren sein dürfte, wenn Deutschland sich nicht auf seine Seite schlägt. Dijsselbloem ist mittlerweile ein sehr viel lauterer Kritiker als Schäuble, wenn es um eine allzu flexible Auslegung von EU-Regeln geht. So hat er auch deutliche Kritik an der Aussage von EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker geübt, Frankreich keine Strafe wegen der wiederholten Missachtung der Defizitregeln aufzubrummen, "weil es Frankreich ist."

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Für Juncker reiht sich das überraschende Defizit-Votum in eine Reihe von Entscheidungen ein, mit denen sich die EU-Staaten wieder mehr Macht in Brüssel sichern. Die Rolle als Hüterin der Verträge verteidigt die EU-Kommission derzeit noch im Bereich des Wettbewerbsrechts, in dem ihr vertraglich Unabhängigkeit zugesagt ist. Allerdings sieht Ceps-Experte Gros auch dort Gefahren aufziehen, denn mit der Entscheidung der EU-Kommission über mögliche Staatsgarantien für italienische Krisenbanken droht aus seiner Sicht der nächste Zwiespalt. Die Brüsseler Behörde müsse sich entscheiden, ob sie die Anwendung der Bankenabwicklungsregeln durchdrücken wolle oder der Forderung von Italiens Ministerpräsident Matteo Renzi nach staatlicher Hilfe nachgebe.