Briefwähler-Boom - Für viele ist Wahl entschieden

Reuters

Veröffentlicht am 20.09.2017 11:43

Briefwähler-Boom - Für viele ist Wahl entschieden

- von Andreas Rinke

Berlin (Reuters) - Die Aufforderung wirkte nicht gerade wie ein Vertrauensbeweis in die Deutsche Post (DE:DPWGn).

Aber den hatte der Bundeswahlleiter auch gar nicht im Sinn, als er am Montag eine Warnung aussprach: Spätestens am heutigen Dienstag sollten Briefwähler ihre Unterlagen für die Bundestagswahl am Sonntag auf den Weg bringen, damit ihre Stimme nun sicher mitgezählt werden kann. Was früher eine bloße Schmunzette gewesen wäre, ist im Jahr 2017 absolut ernst zu nehmen, weil es Millionen betrifft. Denn laut einer Reuters-Umfrage steht Deutschland vor einem Rekordergebnis bei den Briefwählern: In München hatten nach Angaben der Stadt bis Montag 15.00 Uhr bereits 34,5 Prozent der Wähler Briefwahlunterlagen beantragt, abgeschickt oder abgegeben.

Zwar betonte der Bundeswahlleiter am Dienstag, dass keine Gesamtzahlen für die Bundesebene vorliegen. Denn zuständig sind die Kommunen, die ihre Ergebnisse erst am Sonntag offiziell weiterreichen. Aber alle befragten Städte meldeten am Dienstag teilweise stark steigende Zahlen. Das legt die Vermutung nahe, dass die Zahl der Briefwähler nach bereits 24,3 Prozent im Jahr 2013 diesmal an die 30-Prozent-Marke herankommen dürfte.

Das verändert vieles im Bundestagswahlkampf. Denn das aufgeregte Rennen der Parteien um die unentschlossenen Wähler in der letzten Woche vor dem 24. September erreicht viele Bürger gar nicht mehr. Die Wählerschaft driftet also immer weiter auseinander: Es gibt eine wachsende Gruppe von Unentschlossenen, die ihre Entscheidung erst in den letzten Stunden und Tagen treffen. Und es gibt gleichzeitig eine wachsende Gruppe der Frühentscheider. Alle Parteien haben deshalb 2017 erstmals ausgefeilte eigene Briefwahl-Kampagnen gefahren, um dieses Klientel zu erreichen.

Den Grund zeigt ein Rechenbeispiel: Bliebe die Wahlbeteiligung am Sonntag bei dem Wert von 71,5 Prozent im Jahr 2013, dann könnte rechnerisch fast die Hälfte der tatsächlich an der Bundestagswahl teilnehmenden Bürger ihre Entscheidung vor dem Sonntag bereits hinter sich haben. Weil Demoskopen wie bei den zurückliegenden Landtagswahlen auch am 24. September aber mit einer steigenden Wahlbeteiligung rechnen, könnte dieser Effekt zumindest nicht ganz so stark ausfallen.

Verfassungsrechtler haben dennoch bereits Bedenken angemeldet, ob mit der von Wahl zu Wahl steigenden Zahl an Briefwählern überhaupt noch die Anforderung einer nicht nur geheimen, sondern etwa auch allgemeinen, gleichen Wahl erfüllt ist. Denn wer drei Wochen vor dem 24. September abstimmt, kann nicht mehr auf spätere Entwicklungen in der Politik reagieren. Der "Tagsspiegel" zitierte etwa den Göttinger Staatsrechtler Alexander Thiele, der darauf verweist, dass die Briefwähler nicht einmal Einfluss darauf hätten, wenn Kanzlerkandidaten kurz vor der Wahl noch sterben würden.

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Der IT-Sicherheitsexperte Jörn Müller-Quade vom Karlsruher Institut für Technologie (KIT) verweist zudem auf Sicherheitsbedenken, weil Wähler nicht wüssten, ob ihre Stimme mitgezählt werde - und es die Gefahr einer Beeinflussung durch Dritte bei einer Abstimmung zu Hause gebe. Thiele plädiert dafür, die Briefwahl wie vor 2005 nur im Ausnahmefall zu erlauben - etwa bei Nicht-Anwesenheit in Deutschland am Wahltag oder Erkrankungen. Bisher hatte das Bundesverfassungsgericht diese Bedenken verworfen, allerdings noch zu Zeiten, in denen der Anteil der Briefwähler sehr viel niedriger war.

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