Emre Şentürk | 10.11.2022 17:58
Grün so weit das Auge reicht. Diesen Anblick haben die meisten Anleger in ihren Portfolios schon längst vergessen. Seit Monaten wabern die Kurszahlen im roten Bereich und schon längst war vergessen, dass es noch vor 1.5 – 2 Jahren ganz anders aussah. Gut tut es, die grünen Prozentzahlen an den einzelnen Positionen zu sehen, aber an einer 1-Tages-Rallye sollte man sich nicht festklammern.
Die Inflationszahlen der USA wurden heute veröffentlicht. Seit Januar ist es der geringste Anstieg mit gerade einmal 0.4%. Nun steht der Verbraucherpreisindex bei 7.7% im Vergleich zum Vorjahr und ist dabei nach acht Monaten das erste Mal unter 8% im Jahresvergleich. Ausgelöst hat das, dass die großen US-Leitindizes S&P 500, Nasdaq und Dow Jones nochmal kräftig zulegten und auch andere Märkte, wie den DAX oder den Hang Seng, positiv beeinflussten. Wer diese Einleitung im Jahr 2018 gelesen hätte, wäre wahrscheinlich vom Stuhl gekippt.
Ja, es sind erste positive Zeichen, dass die über das Jahr verteilten Leitzinsanhebungen die Inflation tatsächlich eindämmen, aber wirklich schick sind die Zahlen nicht. Noch immer steigen die Preise und drücken auf die Konsumkraft der Bürger. In vielen anderen Ländern sind die Preisanstiege weiterhin im zweistelligen Prozentbereich und gefährden andere makroökonomische Variablen. Mit den hohen Zinsen entsteht im Hintergrund ein Investitionsvakuum in der Realwirtschaft, denn bei den hohen Beleihungskosten werden Großprojekte hintenangestellt. Nicht umsonst erleben wir aktuell ein schwaches M&A-Jahr. Viele Unternehmen schrecken vor Übernahmen und Fusionen zurück, weil es einerseits zu teuer ist und auf der anderen Seite das Marktumfeld nicht sonderlich absehbar ist. Das Resultat sind liegengelassene Chancen, deren Opportunitätskosten erst mittelfristig deutlich werden.
Ein weiteres Risiko ist weitaus gravierender: Arbeitslosigkeit. In einem bezog ich mich bereits auf die fragwürdige Vergangenheit der nordamerikanischen Finanzministerin, die eine sehr inflationslastige Politik zugunsten der Vollbeschäftigung führt. Aus realwirtschaftlicher Sicht ist dies sicherlich ein solider Ansatz, da dies politische Vorzüge hat und auch sozialwirtschaftlich nicht verkehrt ist. Das Problem ist aber, dass man in den USA simultan zur Vollbeschäftigungspolitik auch eine äußerst lasche nachfrageorientiere Geldpolitik fuhr. Kombiniert man Vollbeschäftigung mit Kaufreizen, so wird schnell klar, dass das Wachstum der letzten Jahre in den USA praktisch künstlich aufgebaut wurde. Ziel war also nicht die realwirtschaftliche Stabilität, sondern mittelfristig orientierter Massenkonsum für schnelles Wachstum. Da aber gleichzeitig die Angebotsseite vernachlässigt wurde, entstand ein Konsumüberschuss und dadurch die Lieferkettenprobleme und die Inflation.
Jetzt nimmt die Inflation zwar ab und die Produktionsseite kommt langsam wieder nach, aber dadurch, dass die Preise allgemein so hoch sind, und sich aller Wahrscheinlichkeit nach nur stabilisieren werden, laufen wir hier womöglich in einen Produktionsüberschuss hinein. Bis das Gleichgewicht zwischen erholter Produktion und nachlassender Nachfrage wieder hergestellt ist, müssen die Löhne und Gehälter steigen – bis dahin könnte es aber durch die unzureichende Nachfrage schon zu Entlassungen kommen. Und dann wird es richtig brenzlig: hohe Preise, Angebotsüberschuss und steigende Arbeitslosigkeit – hört sich nach Stagflation an. Zwar zeichnet sich so etwas hier noch nicht kristallklar ab, aber diese logische Kette muss gedacht werden, bevor es passiert. Deshalb ist hier übermäßige Euphorie bei über 7.7% Inflation nicht sonderlich angebracht.
Wenn wir jetzt noch hinzunehmen, dass sich diese Faktoren in anderen Ländern noch dramatischer entfaltet haben und diese Länder über das gesamte Jahr massiv gegen den US-Dollar verloren haben, kommt international noch dazu, dass eine Kapitalflucht in die USA stattfinden könnte. Die nordamerikanische Zentralbank müsste nur überraschenderweise wieder die Zinsen senken, sodass der Kapitalmarkt im Vergleich zum Bondmarkt wieder besser dasteht und schon fließt hier internationales Geld rein, was den inflationären Effekt durch die Nachfrage nach dem Dollar wieder ausgleichen würde. Die USA wären aus dem Schneider, aber was macht der Rest? Interessante Fragen, welche nur die Zeit beantworten wird. Unterm Strich ist aber die Nachricht klar: Ja, Optimismus gehört dazu, kann aber auch gefährlich werden!
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