Die Anmaßung von Wissen

 | 26.07.2022 08:54

Sehr verehrte Leserinnen und Leser,

den Titel meines heutigen Beitrags habe ich dem gleichnamigen Essay des österreichischen Ökonomen und Sozialphilosophen Friedrich August von Hayek entnommen, das dieser 1973 veröffentlicht hat. Hayeks Gedanken dazu sind nach der EZB-Entscheidung in der Vorwoche aktueller denn je.

h2 Marktphilosophie für Anleger/h2

Laut Hayek entstehen Marktmechanismen spontan durch das Handeln der Menschen und nicht durch Planung oder „Design“. Das erkannte bereits Immanuel Kant (1724-1804): „Unser Entscheiden reicht weiter als unser Erkennen.“ Wir können zwar im Nachhinein das Wirken des Marktes erkennen und auch seine Überlegenheit, aber wir haben schon Schwierigkeiten, ihn zu erklären oder in Modellen zu beschreiben. Unmöglich ist es dagegen, ihn nachzubilden oder zu verbessern. Allein der Versuch dazu ist für Hayek eine „Anmaßung von Wissen“.

Was haben solche eher philosophischen Gedanken, mit der EZB-Entscheidung der Vorwoche oder gar mit uns Anlegern zu tun? Eine ganze Menge, denn die EZB hat ein „Transmission Protection Instrument“ (TPI) beschlossen, mit dem sie „ungerechtfertigte, ungeordnete Marktdynamiken“ an den Anleihemärkten bekämpfen will, also unerwünschte Spreads zwischen Anleihen verschiedener Euro-Länder. Dies läuft faktisch auf neue Anleihekäufe hinaus.

h2 Warum TPI problematisch ist/h2

Aber warum ist dieses Instrument problematischer als die bisherigen Anleihekaufprogramme? Weil die bisherigen Programme automatisch und nach dem Gießkannenprinzip funktionierten. Sie führten zwar ebenfalls zu Marktverzerrungen (siehe Börse-Intern vom 19.07.2022), aber das relativ gleichmäßig für den gesamten Euroraum.

Und natürlich maßen sich die Zentralbanken auch mit ihren anderen Maßnahmen – bis hin zum Leitzins – Wissen darüber an, was gut oder schlecht für bestimmte Märkte ist. Aber die breite und homogene Wirkung sowie das meist moderate Vorgehen der Geldpolitik hält die Nebenwirkungen normalerweise in Grenzen. Überspritzt gesagt: Der Markt funktioniert in der Regel so gut, dass er sogar die Fehler der Zentralbanker ausbügelt.

Mit TPI wird aber eine neue Qualität erreicht. Damit soll ausdrücklich nicht der gesamte Markt beeinflusst werden, sondern nur der Teilbereich, bei dem die EZB ein „Versagen“ erkennt. Im Extremfall kann TPI zugunsten eines einzelnen Landes zum Einsatz kommen. (Allgemein gilt Italien als Anlass für die Einführung des TPI.)

Offiziell ist der Einsatz von TPI natürlich an bestimmte Bedingungen gebunden. Aber solche Bedingungen gibt es ja schon, z.B. die Maastricht-Kriterien für die Verschuldung der Euro-Länder. Diese werden aber seit Jahren aufgeweicht und es ist nicht zu erkennen, wann sie wieder eingehalten werden.

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Was sind „ungerechtfertigte, ungeordnete Marktdynamiken“?

Ökonomen befürchten daher einen zunehmenden politischen Druck auf die EZB durch Regierungen, die sich vom TPI Hilfe versprechen, um trotz weiter steigender Schulden ihre Zinslast zu begrenzen oder gar zu verringern.

Diese Sorge ist berechtigt, denn objektive Kriterien, z.B. zur Schuldentragfähigkeit eines Landes, gibt es nicht. Die Maastricht-Kriterien waren auch willkürlich gewählt und funktionierten nur solange, wie die Wirtschaft im Schönwetter-Modus war.

Beim Blick auf die aktuelle Schulden- und Renditesituation im Euroraum ist jedenfalls keineswegs eindeutig, dass es schon „ungerechtfertigte, ungeordnete Marktdynamiken“ gibt, die Anlass geben könnten, ein TPI einzuführen: