Berlin (Reuters) - Trotz Konjunkturflaute und großer Risiken wie dem Brexit oder einem Handelskrieg mit den USA wächst der Fachkräftemangel in der deutschen Wirtschaft.
49 Prozent der mehr als 23.000 befragten Unternehmen können offene Stellen längerfristig nicht besetzen, weil sie keine passenden Arbeitskräfte finden, wie aus einer am Mittwoch veröffentlichten Studie des Deutschen Industrie- und Handelskammertages (DIHK) hervorgeht. Vor einem Jahr sagten dies 48 Prozent. "Wir schätzen weiterhin, dass 1,6 Millionen Stellen längerfristig unbesetzt sind", sagte der stellvertretende DIHK-Hauptgeschäftsführer Achim Dercks. Fast zwei Drittel der Betriebe bekommen keine oder in nicht ausreichendem Maße Bewerbungen, während 60 Prozent über zu geringere oder nicht passende Qualifikationen klagen.
Die steigende Nachfrage nach Fachkräften kommt für manchen Beobachter überraschend, weil Europas größte Volkswirtschaft seit der zweiten Jahreshälfte in einer Schwächephase steckt. Für 2019 kappte das Kieler Institut für Weltwirtschaft (IfW) gerade ihre Wachstumsprognose von 1,8 auf 1,0 Prozent. "Die zunehmende Entkopplung von Konjunkturverlauf und Personalnachfrage ist ein Zeichen der angespannten Fachkräftesituation in den Unternehmen", sagte Dercks. "Sie versuchen, Personal zu gewinnen und zu halten." Besonders die Baubranche sucht händeringend nach Mitarbeitern, aber auch Industrie, Dienstleister und Handel.
"FÜHLER NACH GROSSBRITANNIEN AUSGESTRECKT"
Dabei schielt so manches Unternehmen nach Großbritannien, dessen geplanter EU-Austritt näher rückt. "Sie fangen vereinzelt an, ihre Fühler auszustrecken", sagte Dercks. "Es kann durchaus attraktiv sein für deutsche Unternehmen." Wie viele EU-Bürger Großbritannien wegen des Brexit den Rücken kehren könnten, sei aber unklar. "Das ist schwer zu quantifizieren." Etliche Firmen, etwa aus der Finanzbranche, haben bereits Jobs auf den Kontinent verlegt.
Besonders große Schwierigkeiten bei der Suche nach geeignetem Personal haben die Mittelständler. Stark zugenommen haben diese Probleme aber auch bei Großunternehmen. "Da diese bei Bewerbern vielfach als attraktive Arbeitgeber gelten und zudem in der Regel über mehr Ressourcen für das Recruiting verfügen, ist diese Entwicklung ein Indiz für die Zunahme von Fachkräfteengpässen insgesamt", erklärte Dercks. Gesucht werden vor allem beruflich Qualifizierte. Mehr die Hälfte der Betriebe ist grundsätzlich interessiert, Fachkräfte auch aus dem Nicht-EU-Ausland einzustellen.
Um der Lage Herr zu werden, plädiert der DIHK für einen Ausbau der Kinderbetreuungsmöglichkeiten, um mehr Frauen in Lohn und Brot zu bringen. Auch sollten die Betriebe Älteren eine längere Erwerbstätigkeit ermöglichen. Ebenso müssten für die Integration Geflüchteter mehr Anstrengungen unternommen werden. "Die Stärkung der beruflichen Bildung sowie der Weiterbildung, aber auch ein effizientes und transparentes Zuwanderungssystem sind wichtige Voraussetzungen zur Fachkräftesicherung", sagte Dercks.